Ziele, Design und Instrumente
Zielsetzungen
- Entwicklung eines innovativen Aus- und Fortbildungsangebots für (zukünftige) Mathematiklehrkräfte zur Förderung von Diagnose- und Förderkompetenzen für inklusive Bildung
- Aus- und Fortbildungsstufenübergreifende Konzeptualisierung mit Angeboten für Mathematiklehramtsstudierende im Masterstudium, Mathematiklehrkräfte im Vorbereitungsdienst und berufstätige Mathematiklehrkräfte
- Wissenschaftliche Überprüfung der Wirksamkeit der Aus- und Fortbildung
- Weiterentwicklung des Konzepts, Dissemination über Universitäten, Landesinstitute und andere Lehrkräftefortbildungsinstitutionen nach Projektende
- Zusammenarbeit von Universitäten, Institutionen der zweiten und dritten Phase sowie zuständigen Behörden
Arbeitshypothesen
- Die Teilnahme an der Aus- und Fortbildungsmaßnahme zu Diagnose- und Förderkompetenzen zur inklusiven Bildung führt zu statistisch signifikanten Zuwächsen bei den (zukünftigen) Mathematiklehrpersonen in inklusionsspezifischen Kompetenzfacetten.
- Die Effekte der Aus- und Fortbildung lassen sich auch im Vergleich zu Wartekontrollgruppen absichern und – auf unterschiedlichem Niveau – bei verschiedenen Expertise-Gruppen (Master-Lehramtsstudierenden, Referendar*innen, berufstätige Lehrpersonen) nachweisen.
- Bei berufstätigen Lehrkräften korreliert ihre durch die Fortbildung erweiterte Kompetenz für inklusiven Unterricht positiv mit der von ihnen wöchentlich selbstberichteten Qualität inklusiven Unterrichts.
Theoretischer Hintergrund
Inklusive Erziehung und Bildung ist ein zentrales Anliegen der aktuellen Bildungspolitik, die konkrete Umsetzung ist Gegenstand vielfältiger Auseinandersetzungen (Deutsche UNESCO-Kommission, 2014; European Agency for Development in Special Needs Education, 2012; KMK, 2011; UNESCO, 1994; UN, 2006). Damit verbinden sich auch veränderte Erwartungen an Schule und Unterricht. Aus Sicht der Lehrerprofessionsforschung ist die Frage zentral, welche Voraussetzungen Mathematiklehrkräfte benötigen, um Anforderungen bzgl. inklusiver Bildung erfolgreich zu bewältigen, und wie sie qualifiziert werden können. Mit dem Projekt TEDS-IME fokussieren wir auf zwei, in einschlägigen Kompetenzkatalogen für inklusive Bildung ausgewiesene Anforderungen – Diagnose und Intervention bzw. Förderung –, die primär auf der Unterrichtsebene verortet werden (KMK, 2011; König et al. 2019).
Die Anforderung der Diagnose umfasst neben einer curriculumsorientierten Diagnostik (Häsel-Weide, 2017) die Identifikation von Lernschwierigkeiten im Unterricht, die eine Analyse der Unterrichtssituation im Sinne der professionellen Unterrichtswahrnehmung (Noticing; Sherin et al., 2011) nötig macht (Ricken, 2017). Benötigte Lehrkompetenzen zur erfolgreichen Bewältigung dieser Anforderung präzisieren wir unter mathematikdidaktischer und pädagogischer Perspektive beispielsweise als die professionelle Wahrnehmung seitens der Lehrkraft von individuellen Fehlvorstellungen und Fehlern, Verständnisschwierigkeiten und Lernstrategien der Schüler*innen. Unter Bezug auf das professionstheoretische Modell von Kompetenz als Kontinuum (Blömeke et al., 2015) wird in der professionellen Unterrichtswahrnehmung eine bedeutsame Fähigkeit gesehen, um Anforderungen der Diagnose zu bewältigen (Heinrichs & Kaiser 2017), der insbesondere im inklusiven Unterricht eine hohe Bedeutung zukommt (König et al., 2019).
Die professionelle Anforderung der Intervention bzw. Förderung dockt unmittelbar an die Bewältigung von Anforderungen der Diagnose im inklusiven Unterricht an und schließt unterrichtliche didaktisch-methodische Maßnahmen der Individualisierung und des Umgangs mit Heterogenität in inklusiven Settings ein. Für den Mathematikunterricht unter einer inklusiven Perspektive sind damit auch herkömmliche Ansätze zur Differenzierung bedeutsam (Leuders & Prediger, 2017), die in Abhängigkeit getätigter Diagnosen von den Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler stehen, gleichzeitig aber auch weitere Funktionen erfüllen wie die effektive Verfolgung fachlicher und sozialer Lernziele des Mathematikunterrichts.
Unter Bezug auf die aktuelle Diskussion zum Kompetenzbegriff (Blömeke et al., 2015) konzeptualisieren wir Lehrerkompetenzen für inklusive Bildung somit nicht nur als Wissen (MPCK-IT und GPK-IT, König et al., 2017), sondern auch als situationsspezifische Fähigkeiten, welche für die erfolgreiche Bewältigung der Anforderungen Diagnose und Intervention im inklusiven Mathematikunterricht nötig sind. Diese bezeichnen wir als professionelle Unterrichtswahrnehmung für inklusiven Unterricht (Noticing-IT). Wie in unserem TEDS-Forschungsprogramm unterscheiden wir als Kompetenzfacetten der professionellen Unterrichtswahrnehmung (vgl. Kaiser et al., 2015):
- die Wahrnehmung zentraler Ereignisse im Unterricht (perception – P),
- die Interpretation dieser Ereignisse (interpretation – I) sowie
- die Entwicklung von Handlungsentscheidungen im Unterricht bzw. die Planung alternativer Unterrichtsgänge (decision-making – D).
Diese Konzeptualisierungen, die bereits in entsprechenden Messinstrumenten umgesetzt sind, werden in TEDS-IME erstmals für inklusiven Mathematikunterricht konkretisiert. Dies geschieht unter einer mathematikdidaktischen (M_PID_IT) sowie einer pädagogischen (P_PID_IT) Perspektive. Dabei wird die Perception-Facette konzeptualisiert als Wahrnehmung des Förderbedarfs aus dem gesamten Förderspektrum, die Interpretation-Facette als Interpretation der dem Förderbedarf zugrundeliegenden Lernstand bzw. Entwicklungsproblem, die Decision-Making-Facette als Entscheidung über die angemessene Fördermaßnahme.
Literatur
Blömeke, S., Gustafsson, J.-E. & Shavelson, R. (2015). Beyond Dichotomies. Competence Viewed as a Continuum. Zeitschrift für Psychologie, 223, 3-13. https://doi.org/10.1027/2151-2604/a000194
Deutsche UNESCO-Kommission (2014). Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik (3. Aufl.). Unesco.
European Agency for Development in Special Needs Education (2012). Teacher Education for Inclusion. Profile of Inclusive Teachers.
Häsel-Weide, U. (2017). Inklusiven Unterricht gestalten. In J. Leuders, T. Leuders, S. Prediger & S. Ruwisch (Hrsg.), Mit Heterogenität im Mathematikunterricht umgehen lernen: Konzepte und Perspektiven für eine zentrale Anforderung an die Lehrerbildung (S. 17-28). Wiesbaden: Springer Spektrum. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16903-9
Heinrichs, H. & Kaiser, G. (2017). Diagnostic Competences for Dealing with Students’ Errors: Fostering Diagnostic Competence in Error Situations. In T. Leuders, K. Philipp & J. Leuders (Hrsg.), Diagnostic Competence of Mathematics Teachers (S. 79-94). Cham: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-319-66327-2
Kaiser, G., Busse, A., Hoth, J., König, J. & Blömeke, S. (2015). About the Complexities of Video-Based Assessments: Theoretical and Methodological Approaches to Overcoming Shortcomings of Research on Teachers’ Competence. International Journal of Science and Mathematics Education, 13(2), 369-387. https://doi.org/10.1007/s10763-015-9616-7
KMK (2011). Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 20.10.2011). KMK.
König, J., Gerhard, K., Kaspar, K., & Melzer, C. (2019). Professionelles Wissen von Lehrkräften zur Inklusion: Überlegungen zur Modellierung und Erfassung mithilfe standardisierter Testinstrumente. Pädagogische Rundschau, 73 (1), 43-64. https://doi.org/10.3726/PR012019.0004
König, J., Gerhard, K., Melzer, C., Rühl, A.-M., Zenner, J., & Kaspar, K. (2017). Erfassung von pädagogischem Wissen für inklusiven Unterricht bei angehenden Lehrkräften: Testkonstruktion und Validierung. Unterrichtswissenschaft, 45 (4), 223-242.
Leuders, T., Philipp, K. & Leuders, J. (Hrsg.). (2018). Mathematics Teacher Education: volume 11. Diagnostic competence of mathematics teachers: Unpacking a complex construct in teacher education and teacher practice. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-319-66327-2
Leuders, T. & Prediger, S. (2017). Flexibel differenzieren erfordert fachdidaktische Kategorien. In J. Leuders, T. Leuders, S. Prediger & S. Ruwisch (Hrsg.), Mit Heterogenität im Mathematikunterricht umgehen lernen: Konzepte und Perspektiven für eine zentrale Anforderung an die Lehrerbildung (S. 3-15). Springer Spektrum. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16903-9_1
Ricken, G. (2017). Kompetent sein für Inklusive Schulen heißt auch Diagnostizieren lernen. Eine Aufgabe nicht nur für die Sonderpädagog* innen. M. Gerke, S. Opalinski & T. Thonagel (Hrsg.), Inklusive Bildung und gesellschaftliche Exklusion. Zusammenhänge–Widersprüche–Konsequenzen (S. 187-197). Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-17084-4_12
Sherin, M., Jacobs, V., & Philipp, R. (Eds.). (2011). Mathematics teacher noticing: Seeing through teachers' eyes. Routledge.
UNESCO (1994). Final Report: World Conference on Special Needs Education – Access and Quality. UNESCO.
United Nations (UN) (2006). United Nations Conventions on the Rights of Persons with Disabilities. Verfügbar unter: https://www.un.org/development/desa/disabilities/convention-on-the-rights-of-persons-with-disabilities.html
Studiendesign, Aus- und Fortbildungsmaßnahme & Testinstrumente
Zur Förderung von Diagnose- und Förderkompetenzen für inklusive Bildung wird eine innovative Aus- und Fortbildungsmaßnahme entwickelt. Zur Evaluation dieser Fortbildung sind Kompetenztestungen in Bezug auf Wissen und professionelle Unterrichtswahrnehmung vorgesehen. Die Testungen finden jeweils vor und im Anschluss an die Aus- und Fortbildungsmaßnahme statt und haben pro Testung einen zeitlichen Umfang von ca. 90 Minuten. Aufgrund des Wartegruppenkontrolldesign sind pro Gruppe drei Testungen vorgesehen, wie in folgender Grafik verdeutlich.
Aus- und Fortbildungsmaßnahme
Die Aus- und Fortbildungsmaßnahme soll aus insgesamt fünf inhaltlichen Sitzungen bestehen, zusätzlich gibt es Pre- und Posttestungen. Die Entwicklung der Fortbildung orientiert sich an den Kriterien wirksamer Lehrkräftefortbildungen (z.B. Lipowsky, 2014). So sind beispielsweise Distanzaufgaben für die Zeit zwischen den Fortbildungen geplant, die gezielt die Verschränkung von inhaltlichen Anregungen, Erprobung und Reflexion vorantreiben.
Inhaltliche Festlegungen
Die Aus- und Fortbildung wird als Diversitätsdimensionen u.a. auf mathematisches Vorwissen (u. a. Anforderungs-/ Lernstufen, Grundvorstellungen, Darstellungswechsel, Fachsprache) und Lernstrategien/selbstreguliertes Lernen (u.a. metakognitive Strategien und Scaffolds) als zentrale Lernvoraussetzungen fokussieren. In Bezug auf die mathematischen Inhalte werden die Themen Variablen, Terme, Gleichungen und Funktionen als besonders relevante Elemente der Sekundarstufe I und II behandelt.
Außerdem wird die Entwicklung der Aus- und Fortbildung anhand verschiedener Anforderungen an (zukünftige) Mathematiklehrkräfte im inklusiven (Mathematik-)Unterricht orientiert (vgl. Prediger et al., 2020):
Lernvoraussetzungen des inklusiven Algebraunterrichts...
- ...identifizieren
- ...diagnostizieren und Schwerpunkte setzen
- ...fokussiert fördern
- ...methodisch-organisatorisch umsetzen
Literatur
Lipowsky, F. (2014). Theoretische Perspektiven und empirische Befunde zur Wirksamkeit von Lehrerfort- und -weiterbildung. In E. Terhart, H. Bennewitz &. M. Rothland (Hrsg.), Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf (S. 511-541). Waxmann.
Prediger, S., Kuhl, J., Büscher, C. & Buró, S. (2020). Mathematik inklusiv lehren lernen: Entwicklung eines forschungsbasierten interdisziplinären Fortbildungskonzepts. Journal für Psychologie, 27(2), 288–312. https://doi.org/10.30820/0942-2285-2019-2-288
Instrumente
Für die Kompetenztestungen sind die folgenden Testinstrumente vorgesehen.
MPCK-IT
Der Test mathematical pedagogical content knowledge - inclusive teaching (MPCK-IT) behandelt das mathematikdidaktische Wissen für inklusiven Mathematikunterricht.
GPK-IT
Der Test general pedagogical knowledge - inclusive teaching (GPK-IT) testet das pädagogische Wissen für inklusiven (Mathematik-)Unterricht in Bezug auf die Anforderungsdimensionen Diagnose und Intervention. Auf inhaltlicher Ebene wird Wissen über Lernprozesse, Wissen über Dispositionen/Unterschiede, methodisches Wissen über Diagnose, Wissen über Klassenführung, Wissen über Strukturierung und Wissen über Binnendifferenzierung/Individualisierung berührt.
Siehe hierzu:
König, J., Gerhard, K., Melzer, C., Rühl, A.-M., Zenner, J., & Kaspar, K. (2017). Erfassung von pädagogischem Wissen für inklusiven Unterricht bei angehenden Lehrkräften: Testkonstruktion und Validierung. Unterrichtswissenschaft, 45 (4), 223-242.
König, J., Gerhard, K., Kaspar, K. & Melzer, C. (2019). Professionelles Wissen von Lehrkräften zur Inklusion: Überlegungen zur Modellierung und Erfassung mithilfe standardisierter Testinstrumente. Pädagogische Rundschau, 73. Jahrgang / 2019(1), 43–64. https://doi.org/10.3726/PR012019.0004
PID-IT
Der Test perception/interpretation/decision-making - inclusive teaching (PID-IT) zielt auf die professionelle Unterrichtswahrnehmung in inklusivem Mathematikunterricht als situationsspezifische Kompetenzfacette ab. Dabei wird die professionelle Unterrichtswahrnehmung unter einer mathematikdidaktischen (MPID-IT) und einer allgemeinpädagogischen Perspektive (PPID-IT) getestet. Der Test baut auf vorigen Projekten im Rahmen des TEDS-M-Forschungsprogramm auf und wird videobasiert entwickelt.
Weiteres
Zur Begleitung der Fortbildung und ihrer Evaluation ist weiterhin eine Lerntagebuch-Applikation vorgesehen.
Zu weiteren Evaluation sind optional Fortbildungs- und Unterrichtsvideographien, Schüler*inneneinschätzungen von Unterichtsqualität und diagnostische Tests von Schüler*innen in der Diskussion.